Wie der Bund die Ernährungssicherheit mit veralteten Zahlen berechnete
- Yannick Güttinger

- 13. März 2024
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 5. Juli

Ein Bericht des Bundesamts für Raumentwicklung kommt zum Schluss, dass die Schweiz über genügend gutes Kulturland verfügt, um die Ernährungssicherheit zu gewährleisten.
Der Bundesrat bestätigt, dass der Bericht auf dem Bevölkerungsstand von 2014 basiert.
Warum das wichtig ist: Die Versorgungssicherheit in der Schweiz wird durch die Zuwanderung stark belastet. Je mehr Leute, desto weniger Ressourcen pro Kopf stehen zur Verfügung.
Für eine Berechnung der Ernährungssicherheit in einem Land mit einer so hohen Zuwanderung wie der Schweiz sollte die Bevölkerungszahl von zehn Jahren in der Zukunft berücksichtigt werden und nicht diejenige von vor zehn Jahren.

Darum geht es: Ende November hat das Bundesamt für Raumentwicklung in einer Medienmitteilung (siehe hier) bekannt gegeben, dass in der Schweiz 445’680 Hektaren Fruchtfolgeflächen (FFF) gesichert seien. Dies entspreche einem Überschuss von 1,6 Prozent gegenüber dem Mindestumfang für die Versorgung der Bevölkerung in Notlagen.
Bei den Fruchtfolgeflächen (FFF) handelt es sich um Böden mit dem höchsten landwirtschaftlichen Ertragspotenzial. Sie sollen die Selbstversorgung bei gravierenden Mangellagen sicherstellen.
So entsteht der Eindruck, die Schweiz sei im Krisenfall gerade noch ausreichend gerüstet.
Was verschwiegen wird: Der Bericht, der der Medienmitteilung zugrunde liegt (siehe hier), geht vom Bevölkerungsstand der Schweiz im Jahr 2014 aus.
O-Ton Bericht: «Ergebnisse zeigen, dass bei einer Bevölkerung von 8.14 Millionen Personen [...] ein Energieangebot von 2’340 kcal pro Person und Tag produziert werden könnte.»
In Zahlen: Würde man das berechnete Angebot aus der Inlandproduktion auf die Bevölkerung des Jahres 2022 umlegen (was zum Zeitpunkt der Publikation des Berichts die aktuellste Zahl gewesen wäre), ergäbe dies nur rund 2’180 kcal pro Person und Tag.
Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen definiert Hunger als die Aufnahme von weniger als 2'100 Kilokalorien pro Tag.
Der durchschnittliche Schweizer konsumiert heute rund 3'500 Kilokalorien pro Tag.
Nachgefragt: Diese Diskrepanz ist auch dem Zürcher SVP-Nationalrat Martin Hübscher aufgefallen.
Er wies in der Fragestunde des Nationalrats letzte Woche darauf hin, dass die Wohnbevölkerung seit der Festlegung der Mindestgrösse der FFF weiter stark gewachsen sei.
Er wollte vom Bundesrat wissen, auf welcher Bevölkerungsbasis der Mindestumfang der FFF berechnet wurde und wie gross dieser bei der heutigen Wohnbevölkerung der Schweiz sein müsste (siehe hier).

Umweltminister Albert Rösti nahm im Rat mündlich zu Hübschers Frage Stellung:
Der Mindestumfang der Fruchtfolgeflächen sei tatsächlich für die Ernährung von 8,14 Millionen Menschen berechnet worden.
Die Kilokalorien, die unter diesen Bedingungen pro Person und Tag zur Verfügung stünden, seien in einer schweren Mangelsituation akzeptabel – zumindest würde es für ihn reichen, so Rösti.
Der Mindestumfang der FFF bei einer Bevölkerungszahl von neun Millionen und mehr müsse neu berechnet werden.
Neben der Bevölkerungsgrösse müssten auch andere Faktoren wie Ertrag und Anbaumethoden berücksichtigt werden.
Das Berechnungsmodell werde derzeit aktualisiert.
O-Ton Rösti: «Der Bundesrat geht davon aus, dass die Ernährungssicherung dank der Produktionsfortschritte, die in den letzten Jahren erreicht wurden, gewährleistet bleibt. Allerdings bleibt die Sicherstellung des Mindestumfangs an Fruchtfolgeflächen in Anbetracht der stark steigenden Bevölkerungszahl und des damit zusammenhängenden Bedarfs an Boden auch in Zukunft eine Herausforderung.»
Worauf zu achten ist: Das Faktenblatt des Bundesamtes für Raumplanung (siehe hier) zeigt zudem, dass zwei Drittel der FFF in städtischen und stadtnahen Gebieten liegen:
Dort, wo aufgrund des Bevölkerungswachstums der Siedlungsdruck am grössten ist.
So forderte etwa Martin Hofer, Architekt und Mitbegründer des Beratungsunternehmens Wüest Partner, in der NZZ, stadtnahe Freiflächen für den Wohnungsbau freizugeben (siehe hier).
Es sei nicht einzusehen, warum bestens erschlossenes Land an der Stadtgrenze für den Anbau von Futtermais genutzt werde, so der Immobilienexperte.

Counterpoint: Weniger optimistisch als der Bundesrat zeigt sich hingegen ein Bericht, der im Auftrag des Bundesamtes für wirtschaftliche Landesversorgung erstellt wurde (siehe hier):
«Während die Bevölkerungszahl weiter steigt, ist der Trend der Inlandproduktion seit einigen Jahren leicht rückläufig.»
«Die Schweiz wird zur Sicherstellung der Versorgung, die über ein absolutes Minimum hinausgeht, auch in einer solchen Situation weiterhin auf substanzielle Importe [...] angewiesen bleiben.»
The Big Picture: Die landwirtschaftliche Nutzfläche hat in der Schweiz in den letzten zehn Jahren stark abgenommen. Seit 2014 sind in absoluten Zahlen 93 Quadratkilometer Kulturland verschwunden.
Jede Sekunde wird in der Schweiz ein Quadratmeter Kulturland überbaut. Der jährliche Kulturlandverlust entspricht etwa der Fläche des Brienzersees.
Während 2014 noch knapp 13 Aren pro Kopf zur Verfügung standen, waren es 2022 bereits weniger als zwölf.
Gleichzeitig sank der Selbstversorgungsgrad der Schweiz um über elf Prozent.
Meine Einschätzung: Es ist nicht das erste Mal, dass sich der Bund bei den Bevölkerungszahlen verschätzt. So rechnete er im Bericht zu den Energieperspektiven 2050, der Grundlage für die Energiestrategie 2050 und deren Abstimmung im Jahr 2017, mit einer Bevölkerungszahl von 9 Millionen im Jahr 2050 (siehe hier, S. 5). Diese Zahl hat die Schweiz bereits im letzten Jahr erreicht – ganze 27 Jahre früher. Gleichzeitig verschwinden erstmals Pro-Kopf-Zahlen aus der Taschenstatistik des Bundesamtes für Statistik (BFS). Damit verschwindet der Effekt der Zuwanderung, der in den verschiedensten Bereichen zu beobachten ist, aus der am leichtesten zugänglichen Publikation des BFS. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses Vorgehen System hat – oder zumindest grob naiv ist.
Dieser Beitrag wurde zuerst im «Nebelspalter» veröffentlicht. Siehe hier: Link














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